Belgien betreibt vier Reaktorblöcke am Standort Doel (nahe Antwerpen) und drei am Standort Tihange (unweit der niederländischen und deutschen Grenze bei Aachen). Zur Zeit besteht ein großer politischer Konflikt um die Blöcke Doel 3 und Tihange 2. Bei beiden waren in den Reaktordruckgefäßen tausende von Fehlstellen („Risse“) entdeckt worden, deren Herkunft bis heute nicht eindeutig geklärt ist.
Die belgische nukleare Aufsichtsbehörde FANC hat Ende 2015 nach fast zweijährigem Stillstand das Wiederanfahren beider Blöcke genehmigt. Die Sicherheit der betroffenen Meiler sei durch die Fehlstellen im Stahl des Reaktordruckbehälters nur unwesentlich beeinträchtigt, heißt es.
Dies ist ein ganz unverantwortliches Verhalten. Die belgischen Atomkraftwerke gelten ohnedies als die unzuverlässigsten der Welt, und gerade zur Zeit des Wiederanfahrens der Risse-Blöcke wurden sie von einer atemberaubenden Serie von Störfällen heimgesucht.
Im deutsch-niederländisch-belgischen Dreiländereck ist eine enorme Protestbewegung gegen die Risse-Reaktoren herangewachsen. Eine regionale Unterschriftenliste nähert sich der Marke einer Viertelmillion Unterstützer. Sämtliche Kommunal- und Regionalpolitiker aller Parteien haben in der Region Aachen gegen die Wiederinbetriebnahme vor allem des nahen Tihange-2-Reaktors Sturm gelaufen, und bereiten zur Zeit Klagen dagegen vor. Auch die wichtigsten benachbarten niederländischen Städte, z.B. Maastricht, schließen sich dem an.
Die gestellte Frage lässt sich also nicht mit Hinweisen auf politische Mehrheitsverhältnisse bei den Betroffenen beantworten, und schon gar nicht mit einer beruhigenden Sicherheitslage. Es liegt eher eine ins Extrem gesteigerte, aber im Prinzip typische Gemengelage vor: Die belgische „Atomaufsicht“ ist personell, institutionell und nach ihrer Interessenlage eng mit dem Atomkonzern „Electrabel“ verbandelt. Die Gewinninteressen des Konzerns werden über die Gesundheitsinteressen der Bevölkerung gestellt.
Hinzu kommt noch, dass Belgien bisher die Energiewende verschlafen hat. Aus Deutschland kann das Land keinen Strom direkt importieren, weil es keine Koppelstelle zwischen dem belgischen und dem deutschen Stromnetz gibt. Da mehr als die Hälfte der belgischen Elektrizität aus den sieben AKW-Blöcken stammt, müsste das Land sich anstrengen, den Bedarf bei einem raschen Atomausstieg anderweitig zu decken. Dazu ist man offenbar nicht bereit.
In einem Schreiben an den Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. (SFV) hat der nordrhein-westfälische Umweltminister Johannes Remmel am 14. Januar 2016 folgendes zum Wiederanfahren von Tihange 2 und Doel 3 geäußert: „Den Verantwortlichen ist der Vorwurf nicht zu ersparen, den schnellen Gewinn über die Vorsorge zu stellen.“ Das kommt der Wahrheit wohl recht nahe.
Auf der Facebook-Seite des SFV wird umfangreich über die Tihange-Problematik und über die Proteste gegen die belgischen AKWs berichtet: www.facebook.com/sfv.de